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Artikel für die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift "Raum & Zeit" unter dem Titel:

Die Sprache der Architektur

Ausgabe 126
November/Dezmeber 2003

Der Text wurde von der Redaktion noch editiert und ergänzt, ich veröffentliche hier die Rohfassung. Falls sie diesen Text in gedruckter Form lesen wollen: Die Zeitschrift Raum & Zeit ist an allen gößeren Bahnhöfen erhältlich.


Lebensraumgestalt verstehen und für die Zukunft nutzen

Was sich hinter schöner Architektur verbirgt

Wir finden etwas schön, wenn unser Unterbewusstsein mit dem Anblick in positive Resonanz gelangt. Wir sehen die Dinge zwar in vollem Bewusstsein, aber wenn wir erklären sollten, warum etwas schön ist, dann gelingen uns meist keine überzeugenden Antworten. Denn das, was sich in unserem Unterbewusstsein spiegelt, lässt sich nicht so ohne weiteres in Worte fassen.

Fensterfront Hier sieht man vom Innenraum der Jesajakirche München in den Meditationsgarten als Beispiel für die 4. Stufe des Lebensgesetzes

Dennoch gibt es dazu einen Zugang. Generationen von Psychoanalytikern bemühten sich darum. Dabei erscheint der Zugang C. G. Jungs über die Archetypen im Bereich der Bilder und Bauwerke am fruchtbarsten. Archetypen nannte C. G. Jung bestimmte Bilder und Vorstellungsmuster, die unbewusst die Menschen aller Kulturen seit Urzeiten in sich tragen. Der Psychoanalytiker ging davon aus, dass ein so genanntes kollektives Unterbewusstsein existiert, das seit jeher für persönliche und gesellschaftliche Entwicklung von Bedeutung ist. Elementare Erfahrungen wie Geburt, Tod, Ehe oder Trennung haben beispielsweise unabhängig von Zeit und Ort zu ähnlichen gestalterischen Ausdrücken und Ritualen geführt. Die C. G. Jungschen Archetypen kann man auf Architektur erweitern.

Der moderne Mensch hat die Wirkung der Bilder und Rituale auf den Menschen aus dem Bewusstsein verloren. Dabei hat Architektur eine Sprache, nonverbal zwar, aber wir wissen ja, wenn wir etwas schön finden, „spricht uns etwas an“. In den Redewendungen steckt oft psychologische Weisheit. Diese nonverbale Sprache wenigstens teilweise zu entziffern, ist das Bemühen dieses Beitrages.

Man kann diese Sprache verstehen lernen wie jede andere Fremdsprache. Beherrschen wir sie, können wir mit ihr Botschaften aussenden und Wirkungen erzielen. Frühere Generationen hatten hier eine große Meisterschaft. Die Glaubensbegeisterung des Mittelalters entstand im Zuge der Dom- und Kirchenbauten und den damit verbundenen Ritualen und Bildern. Die Renaissance-Rathäuser machten das neue bürgerliche Selbstbewusstsein und den Freiheitswillen bewusst. Mit den Barockschlössern und Wallfahrtskirchen sowie einem gewissen in barocken Bürgerhäusern sichtbar werdenden Wohlstand gelang es sogar, die Bevölkerung mit der Situation der absolutistischen Herrschaft zu versöhnen. Wahrscheinlich steckt auch hinter der modernen Architektur eine bewusste oder erahnte Absicht und diese Absicht muss nicht immer am Gemeinwohl orientiert sein. Wenn wir diese nonverbale Sprache nicht bewusst verstehen, setzen wir uns Einflüssen aus, die wir nicht kontrollieren können. So lassen wir Macht über uns geschehen, die wir eigentlich gar nicht wollen. Dagegen könnten wir, wenn wir die tieferen Schichten unseres Bewusstseins besser verstehen würden, uns eine heilende Umwelt schaffen und unseren Mitmenschen Lebensraummodelle erleben lassen, die menschlicheren Leitbildern mehr entsprechen als diejenigen, die vom kapitalistischen Denken ausgesandt werden.

Einen Hinweis darauf, ob die Sprache der Architektur unseren Werten entspricht, vermittelt unser Schönheitsgefühl. Ich greife jetzt einmal die Innenstadt von München heraus, die viele kennen. Ich hätte auch Salzburg oder eine der meisten alten Städte Europas als Beispiel wählen können. Denn überall ist in tieferen Schichten eine ähnliche Botschaft enthalten, die es zu entziffern gilt. Die meisten Menschen sind vom Zentrum in München beeindruckt, sie finden es schön. Die tieferen Schichten unseres Bewusstseins, welche die nonverbale Sprache unmittelbar verstehen, übermitteln uns ein positives Gefühl, das wir dann als Schönheit bezeichnen. Ich werde bei den einzelnen Archetypen immer wieder auf München zurück kommen. In einem kurzen Aufsatz wie diesem kann die unterbewusste Sprache der Architektur, also die Archetypen, in ihrem Wesen und ihrem Wert nur angedeutet werden. Ich gehe auf sechs solcher Archetypen ein:

1. Das vierteilige Lebensgesetz

Blick in Innengarten Typisch für die bereits 1987 nach den Archetypen erstellte Landschaftssiedlung Cherbonhof in Bamberg sind die einsichtsgeschützten Innengärten als Wohnzimmer im Freien für jedes Haus. Sie entsprechen der 4. Stufe des Lebensgesetzes und haben Yin-Charakter.

Bei den urgesetzlichen Energien handelt es sich nicht um starre Kräfte, die uns in ein Korsett zwängen. Sie haben nichts mit erstarrten Dogmen zu tun, im Gegenteil, wenn man die Dogmen der verschiedensten Lehren zurückverfolgt, stößt man auf auf lebendige Gedanken, die das Gegenteil von Erstarrung bewirken wollten. Die Archetypen wollen uns helfen, im Leben Sinn zu finden, gesund an Körper und Seele zu werden und positiv auf unsere Mitmenschen zuzugehen. Sie sind Helfer, in unserer persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung voranzukommen. Dies wird bei allen 6 Archetypen, die ich anspreche, deutlich herauskommen,auch gerade das vierteilige Lebensgesetz hat den Sinn, unseren Lebensprozess in Gang zu halten. Die vier Teile sind Prozessstufen mit einer inneren Logik, die, wenn sie die 4. Stufe erreicht haben, auf einen neuen Kreislauf auf höherer Ebene hinweisen. Folge dessen taucht das Prinzip auch in den Weisheitslehren, den Religionen und Philosophien auf. Das Lebensgesetz liegt allen Lebensbereichen zugrunde: in der Wissenschaft, der Kybernetik, der Mathematik, der Medizin etc., eben in allen Bereichen, in denen ein Prozess vom Ursprung bis zur Wirkung ablaufen soll. Meist sind es vier Hauptstufen, deren erste die Ausgangslage beschreibt, deren zweite die Zielsetzung formuliert, deren dritte die Umsetzung beinhaltet und deren vierte das Ergebnis und die Wirkung betreffen. Das kommt laufend im alltäglichen Leben vor. E. Kant hat die vier Stufen so beschrieben: 1. Was ist?, 2. was soll sein?, 3. was kann sein?, und 4. was ist der Mensch? Am schönsten sind die vier Stufen im Faust ab Zeile 1216 beschrieben. Das christliche Glaubensbekenntnis zeigt sinngemäß diese Struktur. Die vier Tageszeiten und Jahreszeiten weisen auf das Prozesshafte hin. Wenn das Lebensgesetz für das Leben so wichtig ist, muss es auch für die Architektur, die dem Leben und der Entwicklung dient, grundlegend sein.

Der einfachste Zugang des Lebensgesetzes zur Architektur läuft über die drei Dimensionen der Geometrie. Die erste Dimension ist Punkt und Linie. In der Architektur ist das die betonte Straße, ein Turm oder eine auffällige Spitze oder Berg. In München wird diese Linie z. B. am Marienplatz durch die beiden Haupttrassen und durch den alten Rathausturm bzw. dem Turm der Peterskirche symbolisiert. An der wichtigen Nordachse befinden sich dann noch einige Ensembles mit der Theatinerkirche, der Residenz und der Universität. Die erste Stufe mit Straße und Turm sagt: Hier komme ich her, hier stehe ich.

Die zweite Dimension in der Geometrie ist die Fläche, also Länge mal Breite. Das ist in der Architektur der Platz, der von Bauteilen begrenzt ist. Die Aufforderung des Platzes lautet: Hier treffe ich mich mit meinen Mitmenschen und bespreche, wohin und wie es weiter gehen soll. Agora, Forum und Marktplatz sind die uns bekannten Begriffe für diesen Typus. Beispiele aus München sind der Marienplatz, der Max Josef Platz, der Odeonsplatz, der Universitätsplatz und viel weitere, auch z. B. Räume wie das Nymphenburger Rondell.

Die dritte Dimension ist der umbaute Raum, also Länge x Breite x Höhe. Es sagt: hier wird gewohnt, gearbeitet, regiert, gefeiert. Hier entstehen die Werke. Die drei ersten Stufen beziehen sich auf den Lebensraum. Die vierte Stufe hat eine Sonderstellung. Sie ist ganzheitlicher und verweist auf unser Verhältnis zur Erde, zum Himmel und zur Ewigkeit, auf Zeit und Zeitlosigkeit. In der Architektur wird er dargestellt durch Innenhof, Innengarten, Kreuzgang oder Meditationshof und symbolisiert den Raum, der nach oben offen ist. Man könnte sagen, mit der vierten Dimension wird Raum und Zeit verbunden. In München wird das Marienplatzensemble durch das Rathaus mit Innenhöfen, die Residenz mit dem Hofgarten, die Theatinerkirche mit den Innenhöfen und der Universitätsplatz mit der Universität samt Lichthof vervollständigt. Die vierte Stufe erscheint oft mit einem mandalaartigen Grundriss. Das ist eine Figur mit doppelter Symmetrieachse. Sie weist auf die große Einheit hin, Einheit von Welt und Himmel, Mensch und Gott, sagt, dass wir in dieser Einheit die Mitte des Lebens findenund gefühlsmäßig zu hause sind. Grundrisse sakraler Räume von der Steinzeit bis heute zeigen diese Grundstruktur. Der Hofgarten in München ist dafür ein typisches Beispiel. Die „Paradiese“ vor den mittelalterlichen Kirchen, die Kreuzgänge der abendländischen Klöster, viele Kirchen, die Grundrisse fast aller älteren Städte, der klassische Bauerngarten und viele andere Orte, die sammelnd und heilend wirken sollen, bauen auf dem Mandala mit doppelter Symmetrieachse auf. An vielen anderen Stellen in München gibt es das vierteilige Ensemble. Die Beispiele nach diesem Grundprinzip sind auf der ganzen Welt zahllos. Ob China, Italien, in den meisten alten Ortskernen bei uns, auch bei Schlössern trifft man diese Konstellation an. Ein Vergleich mit der heutigen Stadtplanung zeigt, dass solche Grundstrukturen vollkommen verloren gegangen sind. Das gilt auch für die folgenden archetypischen Prinzipien.

2. Das Analogiegesetz

Die Weisheitslehren der Menschheit haben immer wieder Gesetzmäßigkeit bei der Beobachtung der Welt gefunden und formuliert. Eine Sammlung solcher Erkenntnisse stellen die so genannten „Hermetischen Gesetze“ dar, die schon 5000 Jahre alt sind. Eines dieser Gesetze sagt: Wie im Großen so im Kleinen. Wer sich mit Astrologie befasst, sieht, wie sich Konstellationen im Leben einzelner Menschen spiegeln. Für die Kulturgeschichte ist die Spiegelung des Kulturkreises mit dem Lebenslauf des individuellen Menschen interessant. Der Lebenslauf beginnt mit einer unbewussten Phase, über die typischen Erscheinungen der Pubertät und des erwachsen Werdens, der Zeit des erfolgreichen Handelns bis hin zum Alter. Dabei können diese Stufen bei aller Charakteristik der Zeitphase sehr harmonisch oder auch gestört ablaufen.

Nun zeigen sich im Ablauf eines Kulturkreises analoge Erscheinungen. Er beginnt mit einer sehr naiven und elementaren Phase und einer Klärung der Selbstfindung. Das wäre in der Antike die Archaik und Vorklassik. Im abendländischen Kulturkreis die Zeiten bis Ende der Romanik. Die Zeit des erwachsen Werdens ist gekennzeichnet durch hohe Ziele, Begeisterungsfähigkeit bis Schwärmerei und Liebeskontakte. Das lässt sofort an die Minnesänger, an die Rittertugenden und an die religiöse Begeisterung im Mittelalter denken. Die hochstrebende und romantische Architektur, die mit viel Opferbereitschaft entstanden ist, passt in diese Atmosphäre. Anschließend kommt die Phase der Mündigkeit und der Selbstbestimmung, des Aufbegehrens gegen Hierarchie und Aristokratie. Das entspricht der Renaissance und der Reformation. Architektonisch bleiben bei uns die repräsentativen bürgerlichen Rathäuser und Patrizierhäuser haften.

Im Barock wird die volle Manneskraft und Macht dargestellt. So zeigt sich auch die Architektur. Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts beginnen die Wechseljahre mit einzelnen herausragenden und reifen Leistungen. Die große Linie der Kultur geht aber abwärts. So zeigen Klassizismus, Romantik, Gründerzeit, Jugendstil und Moderne in schroffem Wechsel ihre Schwächen. Sedlmayr hat diese Zeit mit „Verlust der Mitte“ beschrieben. Eigentlich sollte man im Alter weise und liebevoll werden. Offensichtlich hat unserem Kulturkreis die Kraft zu einer erlösten Form des reif Werdens gefehlt, was ja beispielsweise auch in der Antike zum Zusammenbruch des Römischen Reiches geführt hat.

Ich möchte aus der Analogie von Lebenslauf und Kulturkreis einen positiven Schluss ziehen. Nach den Wirrungen aufgeregter Wegsuche könnte unsere Kultur sich zu einer weisen Form entwickeln. Wir könnten nüchtern und rational unseren Zustand und die Zukunft betrachten, wir könnten mehr an Gerechtigkeit und Solidarität denken, wir könnten in Gemeinschaft unsere Entscheidungen treffen, wir könnten gefühlvoller und liebevoller sein, wir könnten mehr auf die Umwelt achten sowie einen gesunden Lebensstil entwickeln und wir könnten zu einer reifen und toleranten Spiritualität finden. All diese Kriterien könnten auch Leitbild für die Baukultur sein. Darin läge dann auch Schönheit.

In der Münchener Innenstadt überlagern sich die Phänomene der verschiedenen Altersstufen. Da diese in unserer Zelle gespeichert sind, finden wir diese dann sympathisch, wenn sie eine gute Form gefunden haben. Wenn hier auch noch einzelne Elemente einer zukunftsorientierten Gestalt fehlen, so kann dies für uns der Ansporn sein, alte Qualitäten mit einer zeitgemäßen Gestalt zu verbinden.

3. Das Wachstumsgesetz

Dorfplatz Luftbild Dorfplatz Luftbild
Auf diesem Mittelplatz der Ökosiedlung Bamberg treffen die 4 Stufen des Lebensgesetzes zusammen: 1. Rechts sekrekte Trasse durch Turm, 2. Großer Anger als zentraler Platz, 3. Die Gebäude z. B. das Nachbarschaftshaus rechts oben, 4. Oben halböffentlicher und privater Innengarten.

Dorfplatz Dorfplatz mit Kindern
So sieht der Dorfplatz vom Luftbild im Foto aus

Was lebt will wachsen. Da nichts ständig in Länge und Masse weiter wachsen kann, gibt es immer an erreichten Endpunkten Wertewechsel. Das ist am offensichtlichsten am Ende der Gotik, als man technisch und finanziell die Kathedraltürme nicht mehr höher bauen konnte. Der damalige Paradigmenwechsel lief in Richtung Vollkommenheit und Mündigkeit. Hier konnte es dann wieder Wachstum geben, bis auch in diesem Wertesystem alles ausgereizt war. Nach dem Barock begann wieder eine Suche nach neuen Wertsystemen, in denen man wachsen konnte. Man konzentrierte sich auf Rationalität, auf die Antike, auf die Romantik, auf Jugend und Lebensreform. Als man hier überall schnell an Grenzen stieß, versuchte man es mit der totalen Auflösung der Form. Einer der ersten symbolträchtigen Bauten dieses Dranges war der Expo-Pavillon in Barcelona von Mies van der Rohe. Mir erscheint die Gestalt wie ein explodiertes Gebäude, dessen Bauteile aus der Luft zurückgesegelt sind und sich dann in einer fast zufälligen Weise aufeinander gelegt haben. Jedes Bauteil war ein in sich geschlossenen wirkendes Einzelstück. Dieses Denken beflügelt seit dem die moderne Architektur. Neutra und viele Bauhausarchitekten bis hin zum Olympiapark von Behnisch in München kultivierten den Gedanken, der ja aus dem Bild entstand, den Maßstab bis zur Unendlichkeit auszudehnen. Auch die Städte explodieren gestaltlos und breiten sich wie Krebsgeschwüre in das Umland aus. Diese Tendenz zu verstehen erleichtert den Zugang zur Moderne, zeigt aber auch die Schattenzeiten dieser Tendenz auf.

Nun sind wir wieder an einem Punkt angelangt, an dem einerseits die Auflösung gar nicht mehr weiter getrieben werden kann, an dem andererseits aber auch die Ungeborgenheit, Sterilität, Krankhaftigkeit, Seelenkälte, Umweltfeindlichkeit, Heimatlosigkeit und Ungerechtigkeit so eklatant sichtbar wird, dass wir ein neues Wertesystem brauchen, in dem wir dann wieder wachsen können.

Alles deutet darauf hin, dass dies nur in Richtung Weisheit gefunden werden kann. Dem muss die rationale und empirische Wissenschaft ebenso dienen wie das Herz und Gefühl. Die Architektur kann sich im Sinne einer inneren Größe entwickeln. Und das wäre ein Bereich, den wir bisher noch überhaupt nicht ausgelotet haben. Dabei geht es um die Erforschung tiefenpsychologischer Grundlagen und um eine menschlichere sowie beseeltere Architektur. Von der Erscheinung her wird sich eine solche Architektur nicht mehr als freistehender Baukörper in die Mitte des Platzes darstellen und sich ringsum anschauen lassen. Sondern das Herz und die Mitte des Lebensraumes wird durch Plätze, Höfe, Innengärten gebildet werden, um die sich dann Architektur gruppieren kann. Phasen innenorientierter Architektur gab es in der Geschichte schon öfters. Die noch erhaltenen Zeugnisse solcher Epochen werden von den heutigen Menschen als ausgesprochen schön empfunden, während die Mehrzahl der modernen Bauten eine solche Wertschätzung schon lange verloren hat.

4. Lebensräume als Rituale

Architektur ist steingewordener Lebensritus. Natürlich ist Architektur noch mehr, z. B. steingewordene Politik oder steingewordene Weltanschauung. Aber wir haben vergessen, dass Architektur die Liturgie des Lebens abbildet und begleitet. Der Mensch braucht, um im Leben Halt und Sinn zu finden, eine wertvoll gestaltete Markierung aller wichtigen Lebensstationen und Zeitabschnitte. Die 7-Tagewoche und die Feiertage, vor allen die persönlichen Daten wie Taufe, Initiierung, Hochzeit, Jubiläen, Tod etc dienen diesem Ziel. Uns sind viele Lebensrituale verloren gegangen. Darin liegt sicher ein Grund für unsere Zeitkrisen.

Architektur kann so gestaltet sein, dass sie in Bereiche geteilt ist und die Übergänge an den Grenzen bewusst gestaltet sind. Das ist die gestalterische Parallele zu einem rituell strukturierten Leben. Wie wir wissen, läuft der in der Moderne gestaltete Lebensraum unter dem Stichwort „Aufgelockerte durchgrünte Stadt“. Das ist eine weite Fläche ohne Grenzen und Abschnitte, in der die Häuser relativ wahllos verstreut erscheinen. Ein solcher Lebensraum verheißt zwar Freiheit, aber eine solche Art Freiheit kann auf die Dauer so anödend sein, dass jedes Gefühl vom Sinn des Lebens, das Bewusstsein, gebraucht zu werden und dazu zu gehören, verloren geht.

Alle gute Architektur der Menschheitsgeschichte ist eine Lebensraumgestaltung, in der Bereiche und Durchgänge bewusst gestaltet sind. In der Landschaftsökologie spricht man von Randzonen, weil man erkannt hat, dass auch in der Natur in den Randzonen, z. B. zwischen Wald und Wiese oder zwischen Land und Wasser die höchste Naturvielfalt zu finden ist. Wenn man alte Orte untersucht, kann man feststellen, dass oft 7 verschiedene Bereiche vorhanden sind, bei denen gegenseitig die Ränder deutlich ausgebildet sind. Ohne auf dieses archetypische Prinzip näher einzugehen, zähle ich die 7 Zonen auf: 1. Biotop, 2. Land- und Forstwirtschaft, 3. Landschaftspark, 4. öffentlich urbane Zone, 5. Öffentlicher Innengarten, 6. Vorhof, Hof und Haus, 7. Innen- oder Bauerngarten. Interessant an diesen 7 Zonen ist, dass sie in einem gewissen Sinne den Lebensweg des Mensch spiegeln. Das Leben beginnt mit einem elementar natürlichen Vorgang. In der Mitte des Lebens steht der Mensch deutlich im gesellschaftlichen Leben und gegen Ende zieht er sich wieder mehr zurück und beschäftigt sich mit inneren Fragen.

Bei einer Architektur in diesem Sinne sind die Ränder durch Hausfronten, Mauern, Hecken, Baumalleen, Wasserläufe etc. erlebbar und bei den Übergängen zeigt sich eine deutliche Gestaltung z. B. mit Engstellen, Toren, Skulpturen, Erinnerungstafeln,Treppen, Passagen, Baumtoren oder künstlerischer Gestaltung etc. Mit diesem Prinzip kann man auch heute mit modernen Mitteln arbeiten. Wer sehr sensibel solche Bereiche erlebt, kann vielleicht an den Übergängen von einem Bereich zum anderen ähnliche Empfindungen haben wie bei einem Durchgang von einer Lebensphase zur nächsten. Jedenfalls ist eine solche Ortsplanung erlebnisreicher als die aufgelockerte Stadt ohne Bereichsgrenzen.

5. Elemetarenergien

Die vier Elemente Feuer, Erde, Luft und Wasser sind Bildsymbole für psychische Wesensstrukturen. Alle vier Elemente sind gleich wertvoll und im Normalfall erwarten wir, dass sie gleichmäßig vertreten sind. Die Elemente zeigen sich in der Architektur sowohl direkt im Material als auch im Formprinzip, was auch im Feng Shui behandelt wird.

Feuer kann durch glänzende Metalle, Ausrichtung zur Sonne, helle und rote Farben verkörpert werden. Dazu passen Formprinzipien wie Turm, Magistrale, Säulen, stehende Fensterformate etc. Akzente wie Türme, Giebel und Spitzen in Architekturensembles gehören zum Element Feuer. Erde dagegen kommt mit Naturstein, üppigem Bewuchs und mit Tallage zur Geltung. Als Form passen hier stabile Mauerwände, Gewölbe, Nischen, Steinarkaden, Höhlen und Mauern. Ein mit Naturstein und Bäumen gestalteter Marktplatz gehört zum Prinzip Erde. Farben sind hier oft gedeckt oder in grünen Tönen gehalten.

Luft wird durch eine Lage auf dem Berg, durch Fahnen und Maste, durch Sichtschneisen, durch Skelett- und Fachwerkbauten, durch Stahl und Holz, durch große Fenster und hohe Räume, durch helle und gelbe Farben versinnbildlicht. Wasser zeigt sich in der Verwendung von Wasser in Form von Brunnen, Weihern, Wasserläufen etc. Als Gestaltprinzip treten weiche und geschwungene Formen auf. An Farben sind blaue bis violette Töne bevorzugt.

Die psychologische Bedeutung der Elemente wird am besten durch die psychologische Astrologie beschrieben. Daraus ergibt sich auch, dass verschiedene Menschen verschiedene Vorlieben haben und dass auch bestimmte Zeiten wie die unsere bestimmte Elemente bevorzugen. Die moderne Architektur arbeitet vorwiegend mit Feuer und Luft, während in den altern Ortskernen Feuer und Luft mit Erde und Wasser mindestens das Gleichgewicht halten. Schönheit, die mit Herz und Gefühl empfunden wird, kann ohne diese letzteren Elemente nicht auskommen.

Landschaftssiedlung Velburg Im Text wurden die Archetypen an historischen Beispielen, die viele Menschen im Gedächtnis haben, erläutert. Da man diese Erkenntnisse auch bei modernen Projekten anwenden kann, zeige ich eine Siedlungsplanung. Ich wähle dazu die Velburger Landschaftssiedlung aus, hätte aber fast genau so eine der anderen 17 Siedlungsplanungen oder eines meiner Hochbauprojekte erläutern können, da all diesen Planungen die Archetypen zugrunde liegen. Das vierteilige Lebensgesetz zeigt sich hier in zwei senkrechten und einer waagrechten Hauptachse, die sich ähnlich wie in München am Marktplatz kreuzen. Hier sind auch die anderen Teile vorhanden. Im Kleinen erscheint die vierteilige Struktur sinngemäß an jedem Wohnhaus. Dem Analogiegesetz wird die Planung in sofern gerecht, als sie sich bemüht im Sinne eines reifen Alters bewusst, ganzheitlich und ausgeglichen zu arbeiten und dabei gleichwertig Sinnes- und Gemütswerte nicht zu vernachlässigen. Dann gibt es noch eine weitere Analogie: Der Plan spiegelt die 7 Chakren mit ihren typischen Wertigkeiten. So entspricht der Marktplatz dem Solarplexus, die ovale Platz östlich dem Herzchakra, etc. Die Lebensräume als Rituale sind deutlich herausgearbeitet, es gibt die 7 beschriebenen Zonen, die deutlich von einander getrennt sind und an den Übergängen meist auch eine besondere Gestaltbetonung erfahren haben. Für die Elementenergien gibt es viele Entsprechungen. z.B. gibt es eine Sonnenskulptur für das Feuer, Natursteinmale für die Erde, ein Aussichtscafe und Standorte für hohe Bäume für die Luft, Brunnen und Weiher für das Wasser und vieles mehr. Der Wachstumsaspekt kommt darin zum Ausdruck, dass ein neuer Maßstab den Werten zugrunde gelegt wird. Statt der modernen Auflösung geht es hier um gesunde Lebensbedingungen für Körper und Seele, also um einen Wertebereich, in dem wir noch lange wachsen können. Die Yin-Yang Qualität durchzieht das ganze Projekt, was im einzerlenen zu erläutern zu langwierig wäre. Die Tatsache dass jedes Wohnhaus und Gemeinschaftshaus einen Innengarten hat, gehört zu diesem Bereich. Das Projekt befindet sich im Bau. Es werden noch Bauinteressenten für Einzelwohnhäuser, Sozialeinrichtungen und Wirtschaftsaktivitäten gesucht, um einen flüssigen Baufortschritt zu gewährleisten.

6. Yin und Yang

Eines der wichtigsten Archetypen im Leben und in der Architektur ist die Polarität von Yin und Yang. Das ist natürlich nicht nur eine östliche Erkenntnis, sondern in unserem Kulturraum gibt es dieses Bemühen. Ein altes Weisheitsdokument sind auch hier die Hermetischen Gesetze, von denen eines das Prinzip der Polarität behandelt. Es sagt, dass sich in Allem Männliches und Weibliches befindet. In der Spannung der beiden Energien entsteht und entfaltet sich Leben.

Da alle Materie besonders die Architektur verdichteter Geist ist, muss hier das Polaritätsprinzip eine grundlegende Rolle spielen. Das kretisch-minoische 1000-jährige Friedensreich, das eine ausgesprochen matriarchale Ordnung hatte, hat die antike und abendländischen Geistesgeschichte beeinflusst. Aber der Westen tat sich seit dieser Zeit ca. 1000 v. Chr. schwer mit einer gleichberechtigten Polarität, weil man fürchtete, durch ein Antasten des einseitig patriarchalen Prinzips würden die Machtverhältnisse verunsichert. Natürlich hat sich die mächtige Energie der Yin-Yang-Polarität nicht ganz unterdrücken lassen. Aber völlig unbeschwert kann bis heute bei uns noch nicht über das Thema gesprochen werden, weil einerseits das patriarchale Denken noch immer vorherrscht andererseits die Angst existiert, man wolle die Frau wieder auf Familie und Herd zurück drängen, was ja keineswegs typisch für matriarchale Systeme wäre. Ich beschränke mich deshalb im Wesentlichen auf die Architektur. Denn in diesem Bereich bleiben die Philosophien meist im Unterbewussten und werden deshalb von den Hierarchien nicht offen bekämpft. Wir hatten auch bis etwa 1800 eine ziemlich ausgeglichene männlich-weibliche Architektur. Erst danach verfällt unsere Gesellschaft in ein vollkommen patriarchales Denken, jedenfalls zeigt sich das in der Architektur der letzten 200 Jahre.

In Lebensräumen, in denen die Polarität von Yin und Yang hochwertig realisiert ist, fühlen wird uns energetisiert, was wir unter anderem mit dem Begriff „schön“ beschreiben. Es gibt lange Listen, in denen die männlichen und weiblichen Gestaltphänomene gegenüber gestellt sind. Dazu fehlt hier der Platz. Ich weise aber auf einige der vorausgehenden Kapitel hin und spreche dann noch einen Aspekt an. Bei den vier Phasen des Lebensgesetzes entsprechen 1 + 3 dem Yang-Prinzip, 2 + 4 dem Yin-Prinzip. Zum Kapitel über die Lebensräume als Ritual kann gesagt werden, dass das Denken in Bereichen und Abschnitten und besonders das Prinzip der Durchgänge und Rituale eher Yin-Charakter haben. Beim Kapitel Elemente wurde schon auf die astrologische Psychologie hingewiesen. Hier wird teilweise sehr deutlich herausgearbeitet, dass Feuer und Luft zum Yang-Prinzip und Erde und Wasser zum Yin-Prinzip gehören. Diese zwei Prinzipien kommen in denjenigen Fällen meist gleichwertig vor, wo wir Ensembles vorfinden, die uns positiv ansprechen.

Ein im Gestaltbereich sehr einleuchtendes Phänomen ist die Polarität von Skulptur und Schale. Eine Skulptur oder ein freistehendes Haus, um das man herumlaufen und das man von allen Seiten betrachten kann, ist typisch yang-betont. Das dazu gehörige Gegenstück sind Schale und Innenhof. Wie Mutter und Schraube oder Mönch- und Nonnenziegel treten diese Elemente in guten Architekturensembles meist in einem bewusst gewählten Verhältnis zueinander auf. Das kann ein Kunstwerk oder ein Brunneaufbau in einem Innenhof sein oder ein Turm oder ein Denkmal auf einem Marktplatz. Dass in solchen Ensembles wie z. B. im Bild von Schwert und Scheide auch ein sinnliches Motiv zu finden ist, entspricht dem starken Energiepotentials des Yin-Yang-Prinzips, das die Menschen immer auch in ihrem Umfeld ausgedrückt haben wollten. Das Yin-Yang-Prinzip ist keineswegs gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau gerichtet. Im Gegenteil soll hier gezeigt werden, dass eine Aufwertung des Yin-Prinzips für eine als schön empfundene Architektur unverzichtbar ist.

Schlussbemerkung

Man könnte noch weiterfahren, um mit tiefenpsychologischen Prinzipien unsere Lebensraumgestalt besser verstehen zu können. Da gibt es z. B. ein weiteres Hermetisches Gesetz, welches Lautet:“Alles ist Schwingung, Alles steigt und fällt“. Ich habe es als das Pendelgesetz bezeichnet. In der Architektur spielt dies die Rolle, zu erkennen, dass alles seine Zeit hat. Es gibt große Entwicklungsrythmen wie Gotik, Renaissance, Barock etc. und es gibt Unterrythmen, die etwas 30 bis 35 Jahre dauern. Das ist etwa der Zeitraum der Hauptwirkungsphase einer Generation. Wenn man vom Jahr 2000 diese Phasen zurückverfolgt vielleicht bis hinein in das 19. Jahrhundert sieht man sehr deutlich das Architekturgeschehen in 35-Jahrschritten vor Augen. Und das heißt auch, dass der Pendelschwung in eine neue Phase bereits im Gange ist. Man kann jetzt rätseln, wohin die Reise geht. Nach dem russischen Kulturphilosophen Kondratieff bewegen wir uns auf die Phase der psycho-sozialen Gesundheit hin. Dies würde für unsere Architektur nach der sterilen Technikphase eine völlig neue Richtung geben. Neue Leitbilder wie die Agenda 21 zeigen ebenfalls diese Richtung an.

Mein Wunsch ist es, dass mit Aufsätzen wie diesem, das Nachdenken und Kommunizieren über einen neuen Lebensstil in Gange kommt. Es gibt viele Wissenschaftler und Architekten, die hier etwas beizutragen haben. Diese sollten sich vernetzen, um über ein gemeinsames Forum oder eine Konferenz die Gedanken weiter zu entwickeln und zu veröffentlichen. Wir stehen in einer Zeit des Paradigmenwechsels, der Änderung unserer Lebensziele und des Bewusstseins. Es besteht die Chance, an Körper, Seele und Geist zu gesunden. Dazu müssten sich nicht nur die Gestalter und Planer zusammenfinden sondern alle Fachbereiche, die mit unserer Lebenskultur etwas zu tun haben.

Theodor Henzler